Im Mittelalter hatten viele der wirtschaftlich aufstrebenden italienischen Städte eine große Eigenständigkeit entwickelt. Die politische Bühne wurde hier von den reichen, oftmals alteingesessenen Familien bestimmt. Natürlich gab es hierbei jede Menge Streit darüber, wer welche Ämter bekleiden durfte, nach welchem Verfahren diese Ämter zu besetzen waren und wem überhaupt das Bürgerrecht zuerkannt wurde.
Wie schon im antiken Griechenland haben wir hier mit den vielen selbständigen Städten ein Labor für die Erprobung verschiedener Verfahren der Selbstverwaltung. In Griechenland sticht Athen als großes Beispiel heraus, vor allem, weil sich der Großteil der Überlieferungen auf diese Stadt bezieht. Auch wenn es möglicherweise weitere ähnlich demokratisch verfasste Städte gab wissen wir über diese einfach wenig.
In Italien sind besonders zwei Beispiele gut dokumentiert und durch ihre originelle Anwendung des Loses in komplizierten Wahlverfahren interessant: Venedig und Florenz.
Das Oberhaupt der Republik Venedig, der Doge, soll zum ersten Mal 697 auf Lebenszeit durch eine Stadtversammlung gewählt worden sein. Es kam fortan zu innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Dogen. Einige von ihnen versuchten, das Amt zu vererben. Teilnehmer an diesen Auseinandersetzungen waren auch der Adel, der Klerus, und die Volksversammlung.
Ab 1130 gelang es dem Adel, mit dem Senat eine Institution zu etablieren, die die Macht des Dogen einschränkte. Nachdem der 1171 von einem 11köpfigen Wahlkomitee gewählte Doge Sebastiano Ziani abdanken musste gelang es dem Senat ein neues Wahlverfahren durchzusetzen, das fortan für erstaunliche Stabilität sorgte.
Ab 1268 war das Verfahren ausgereift. Nachdem das jüngste Mitglied des großen Rates, dem etwa 1000-2000 Männer der Oberschicht angehörten, einen Jungen auf dem Marcusplatz [Laut Buchstein aus der Basilika von San Marco] aufgegabelt hat, der fortan als Ballotino die Lose zieht, werden aus eben diesem Rat 30 Männer ausgelost. Aus diesen 30 Männern, die unterschiedlichen Familien entstammen müssen, werden nochmals 9 Wahlmänner (Electores) ausgelost. Diese nominieren dann wiederum 40 Personen aus dem Rat für die nächste Runde.
Über die 40 Nominierten stimmen die 9 Electores nun ab, wobei all jene in die nächste Runde kommen, die nicht mehr als 2 Gegenstimmen erhalten. Sind jetzt noch mehr als 12 Personen dabei, werden sie durch Losentscheid auf 12 reduziert. Diese wählen nun weitere 25 Personen aus dem Rat, deren Zahl dann wieder durch Los auf 9 reduziert, die wiederum 45 neue Electores bestimmen. 34 davon werden durch Losentscheid gleich wieder aussortiert. Die dabei übriggebliebenen 11 Electores wählen nun 41 Eelctores aus dem Rat, diese sind nun die Wahlmänner für den Dogen.
Diese 41 Electores gehen nun in Klausur, bis sie, mit einem Quorum von mindestens 25 Stimmen, ein Mitglied des Rates zum neuen Dogen bestimmt haben. Puh, ganz schön kompliziert.
Sinn des ganzen Verfahrens dürfte gewesen sein, Manipulationsmöglichkeiten bei der Wahl so weit wie möglich einzuschränken. Ob es dafür tatsächlich des komplizierten Wechsels verschieden großer Gremien bedurft hätte ist zwar fraglich, möglicherweise verlieh das ganze der Prozedur auch aber eine gewisse Aura von Geheimwissen der Eingeweihten, also Adligen. Die Rolle der Volksversammlung, die am Beginn der Republik durchaus ein Wörtchen bei der Bestellung des Dogen mitzureden hatte, beschränkte sich am Ende übrigens darauf, den neuen Dogen zu feiern. Das Verfahren war also nicht gerade demokratisch, aber über 500 Jahre lang stabil, bis Napoleon der Republik Venedig ein Ende bereitete.
Auch bei der Besetzung anderer Ämter wurde das Los teilweise angewandt, aber anders als in Athen nur zur Bestimmung von Wahlgremien, nie zur direkten Besetzung von Ämtern.
Florenz
In Florenz war das Los weniger lange präsent, „nur“ etwa 250 Jahre lang. Dafür war hier tatsächlich Demokratie das Ziel, zumindest für einige der Beteiligten. Für die meisten Menschen, die ein wenig Ahnung von der Geschichte Italiens in der Renaissance haben wird Florenz allerdings untrennbar mit dem Namen einer Adelsfamilie verbunden sein, der Medici. Tatsächlich ist die Geschichte geprägt von einem ständigen Kampf um die politische Vormachtstellung zwischen der Republik und dieser Familie. Wobei daneben auch die konkrete Ausgestaltung der Republik immer umstritten war.
Allzu weit war es mit der Demokratie freilich auch in Florenz nicht her. In den besten Zeiten hatten immerhin ein Zehntel der männlichen Einwohner der Stadt das Bürgerrecht. Wer jetzt glaubt, das politische System in Venedig sei kompliziert gewesen, kann nun leider nicht aufatmen, denn das florentiner System war um einiges komplizierter. Es lief vor allem nicht im wesentlichen auf die Bestimmung eines mächtigen Mannes, des Dogen hinaus.
Die Spitze der Exekutive war die Signoria, die neun Mitglieder hatte, ein Gremium also, und kein Einzelner. Daneben gab es zwei weitere Gremien, 12 Buonomini und 16 Gonfalonieri. Während der Doge in Venedig zwar aufwändig gewählt wurde, dann aber auf Lebenszeit, kam in Florenz ein wichtiges Element zum Zuge, das auch die athener Demokratie maßgeblich geprägt hatte: Die Rotation. Die Amtszeiten waren sogar noch kürzer als in Athen (meist 1 Jahr): 2 Monate für die Signori, 3 für die Buonomini und 4 für die Gonfalonieri.
Einige nachgeordnete Posten wurden auch hier auf Lebenszeit vergeben, allerdings meist an Personen von außerhalb. Aufgrund der kurzen Amtszeiten waren die Spitzenämter 150 mal pro Jahr zu besetzen, zusammen mit niedrigeren Ämtern erhielten jährlich mehr als 1600 Personen die Möglichkeit, an der Verwaltung der Stadt mitzuwirken.
Es war allerdings nicht so, dass wirklich alle Bürger (zu denen alle Mitglieder der Gilden gehörten) auch tatsächlich im Losbeutel für die Spitzenämter landeten. Vorgeschaltet war ein Filterverfahren. Zunächst mussten die Bürger von 144 Nominatores nominiert werden. Diese waren ehemalige Angehörige der Spitzengremien. Diese wurden dann noch mal von einer Kommission geprüft, die mit Hilfe von schwarzen und weißen Bohnen für oder gegen die Kandidaten votierte. Als Helfer und Garanten für Neutralität fungierten hier Mönche, je einer Franziskaner, ein Dominikaner und ein Augustiner.
Diejenigen, die diese Stufen überstanden hatten, kamen in die Losbeutel für die drei Gremien. Den anderen wurde aber nicht mitgeteilt, dass sie nicht mehr im Rennen waren. Aus diesen Losbeuteln wurden dann jeweils nach Ablauf der Amtsperiode die neuen Amtsträger öffentlich ausgelost und verkündet. Allerdings gab es weitere Kriterien, z.B. durften nicht mehrere Angehörige einer Familie gleichzeitig ein Amt innehaben, so dass ggf. mehrfach gezogen werden musste, bis ein Kandidat wirklich alle Kriterien erfüllte. Die gezogenen kamen nach einiger Zeit wieder in den Beutel zurück.
Durch das vorgeschaltete Auswahlverfahren, das fest in der Hand der Oberschicht lag, waren die Spitzenämter de facto auch der Oberschicht vorbehalten, von Ausnahmen mal abgesehen. Prinzipiell konnten alle Mitglieder der Gilden also in die politische Klasse aufsteigen, praktisch gelang das aber nur wenigen und dieser Personenkreis von wenigen hundert Personen regierte die Stadt in wechselnden Konstellationen. Das Versprechen an die Bürger, die Geschicke der Stadt mitbestimmen zu dürfen wurde also hier auch für den ohnehin beschränkten Kreis der Bürger, nicht wirklich erfüllt. Wir meinen allerdings, dass es dazu in unserer modernen parlamentarischen Demokratie durchaus Parallelen gibt: Auch wenn sich prinzipiell jeder um jedes Amt bewerben darf sind die Chancen es auch bekleiden zu dürfen sehr, sehr unterschiedlich verteilt.
Quelle: Hubertus Buchstein, Demokratie und Lotterie – Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Campus-Verlag Frankfurt / Main 2009, S. 155 – 185